Pflanzstätte


Die unter der Überschrift "Pflanzstätte" zusammengefassten Ausstellungstücke sind Teil einer mittlerweile umfangreichen Werkgruppe.
Die "Pflanzstätte" zeigt eine Auswahl von künstlerischen Arbeiten der vergangenen acht Jahre, an deren Beginn meine eingehende Betrachtung der pflanzenden Frau auf unserem Fünfzigpfennigstück steht.

Der Blick in diesen silbernen Kreis - aus meiner heutigen Sicht geradezu ein magischer Vorgang - führte mich unter anderem auf einen neuen Weg innerhalb meiner künstlerischen Entwicklung. Mit der pflanzenden Frau und ihrer Eiche verließ ich die Welt strenger tektonischer Körper, mit denen ich mich bis dahin intensiv befasste und näherte mich einem Bereich, der mich zu Überlegungen ganz neuer Art anregte, weil hier womöglich eine Art Identifikationsfigur auftauchte. Auf die Frage danach, warum sich die Begegnung mit diesem Motiv so nachhaltig in meiner künstlerischen Laufbahn auswirkte, glaube ich sagen zu können, dass ich hier Aspekten meines eigenen Selbstverständnisses begegnete. Es ergab sich daraus eine Arbeit im Dialog mit einer wortlosen, metallenen Frau. ( Es taucht ja immer wieder die Frage auf, warum jener Mensch ausgerechnet jener Form, jenem Motiv und jenem Thema so treu und lange verbunden bleiben kann. Die Gründe hierfür liegen nicht losgelöst vom Wesen und von der Biografie des Autors. Selbst bei Wissenschaftlern halte ich diese Verbindung in Bezug auf den Gegenstand ihrer Forschungen für relevant.)

Im Mittelpunkt dieser hier vorgestellten Arbeit steht und bewegt sich eine kleine Frau, die als Pflanzende eine Schlüsselfigur zwischen Natur und Kultur einnimmt und als solche meine Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Es handelt sich hier unter anderem um die kleinste, am häufigsten berührte Frauenfigur Deutschlands, die vor 52 Jahren Einzug in unseren Alltag hielt und als Kulturgut ihren festen Ort und ihren vereinbarten Tauschwert zugewiesen bekam. Dort kniete sie seither als Pflanzende des immer selben Baumes in gleichbleibender Haltung und arbeitete widerstandslos, ohne aufzuschauen, in ihrem engbemessenen Terrain. Ihre Winzigkeit rückte sie in den Bereich des kaum Wahrnehmbaren, d.h. in einen Bereich, wo sie nicht beachtet und nur schwer in Frage gestellt werden kann. Im übertragenen Sinn ist das womöglich ein Bereich, in dem sich viele Frauen aufhalten und wo sie auch hingestellt wurden. Man hätte ja fragen können, ob dieser Frauentypus denn noch zeitgemäß war. Die Porträts der Politiker auf den Zweimark -stücken wurden immerhin ab und zu verändert. Die individuellen Züge der Pflanzenden hingegen waren nicht von Belang, denn sie sollte nur Sinnbild sein für die erneuernden Kräfte, für die Hoffnung auf das Wiedererstarken Deutschlands nach den Zerstörungen des Krieges. Es handelt sich bei ihr um eine der sogenannten Kulturfrauen, die nach dem Krieg die Wälder wieder aufforsteten.

Unversehens wählte ich mit dem Motiv und der Münze einen Gegenstand, mit dem viele Menschen täglich in Berührung kommen, und ich bin sicher, dass mich auch dieser Aspekt auf besondere Weise inspirierte. Die Münze ist aus meiner Sicht, der Sicht einer im Bereich der Skulptur arbeitenden Künstlerin, nichts weiter als ein winziges Relief, das tausendfach berührt wird, ohne dabei angeschaut zu werden. Münzen sind so gesehen kleine, multiple Objekte aus Metall mit hohen Auflagen, versehen mit einem bestimmten Tauschwert, der sich, bedingt durch die Entwicklungen des Geldmarktes, verändert. Es handelt sich also um einen Gegenstand, der für verfeinerte bzw. vereinfachte Tauschgeschäfte und deshalb zwangsläufig zum Anfassen erfunden wurde, und das schon vor langer Zeit.

Alleine diese Gedanken, das Vor-Augen-Führen der taktilen Vorgänge, der mikroskopische Blick in die Handhabung dieser Miniaturreliefs, inspirierten mich in hohem Masse. Angeregt von den Aspekten, die dieser Frauentypus der Kulturfrau widerspiegelt und anhand der provozierenden Inhalte, die sich bei meinen ersten Annäherungen entpuppten, begab ich mich auf den Weg einer gedanklichen Auseinandersetzung, die zu einer ganzen Reihe unterschiedlicher Arbeiten führte.

In diesen Arbeiten löste ich die winzige Frau aus ihrem gewohnten Kontext heraus und stellte sie, auf diese Art und Weise "entwertet", auf Puppenformat vergrößert und sichtbarer geworden, ohne eine Eiche zu pflanzen, auf die Böden der Kunst - der Ort aller Möglichkeiten und höchstmöglicher Freiheit.

Mit Hilfe einer Gussform aus Silikon reproduzierte ich sie beliebig oft, ähnlich wie die Münze selber. Den Aspekt der Reproduzierbarkeit, das wichtigste Merkmal einer jeden Münze, behält sie in allen Stadien ihrer Verwandlung bei. Erst die jüngste Arbeit (Die Künstlerin) zeigt sie als Unikat und als eine dynamische, ins Unbekannte aufbrechende Frau, die ihren eigenen Standort markiert. Zunächst vervielfältigte ich die ersten Figuren und führte sie in unterschiedliche Situationen. Ohne den Baum in ihren Händen, reduziert auf eine Geste, sah es aus, als ob sie betend oder segnend ihre Hände über den Boden hielt oder im Begriff war, eine gymnastische Übung auszuführen.

Der spielerische Umgang mit der wachsenden Gruppe oder Truppe der in Gips reproduzierten Figuren ergab zahlreiche und schließlich unzählige Möglichkeiten von Aufstellungen, Stapelungen, Reihungen, ornamentale Muster auf dem Boden und Friese entlang der Wand. Ich untersuchte ihre formimmanenten Möglichkeiten und wurde immer wieder aufs Neue überrascht von dem, was in ihr steckte, bis ich sogar ihre Fähigkeit erkannte, Purzelbäume zu schlagen, anstatt Bäume zu pflanzen. Der Wegfall des Baumes legte ein ungeahntes Potential frei und es schien, als lebte sie vor meinen Augen nach dieser "Enteignung" in ausgelassener Weise auf. Nachdem ich sie als Trickfilmheldin zu einem Purzelbaum animierte, begann ich die Gipsabgüsse individuell zu verändern und dabei jeweils einzelne Aspekte hervorzuheben oder ins Gegenteil zu kehren.

Als Beispiel nenne ich hier "Die Unberührbare", eine schwarz gefärbte Figur, die mit Dornen bestückt, von sich abweist. Die kolorierte Figur machte mir klar, warum mir der weiße Gips als Material meiner Reproduktionen entgegen kam: Durch die weiße Farbe des Materials Gips bot sich die Figur als Projektionsfläche an, und vielleicht wurden nur durch diesen Verzicht auf Farbigkeit die obengenannten Variationen und Spielarten möglich. Es entstanden so insgesamt zehn individuell veränderte Figuren, die nicht mehr austauschbar waren, sondern als Unikate im Werkverzeichnis Einzug hielten.

Ich hatte diese kleine Frau aus dem harten Metall geholt und in Bewegung versetzt und sie, zumindest in meiner Fantasie, regelrecht belebt. Unter diesen Umständen warf ich die Frage auf, warum sie die Eiche auf dem Fünfzigpfennigstück nicht wirklich pflanzte, sondern über dem Boden hielt, ohne dass die Wurzeln gar den Grund berührten. Sie hielt den Baum scheinbar mühelos, vielleicht weil der Baum eine Attrappe war. Oder sie meditierte in dieser Haltung. Jedenfalls kam es zu keiner Pflanzung. Wäre es für uns alle nicht ein Erlebnis besonderer Art gewesen, spätestens nach dem erfolgten Aufschwung Deutschlands zu entdecken, dass der Baum ein Stückchen weiter in den Boden eingedrungen war. Doch daran hatte niemand gedacht. Die ganze lange Zeit tat sich nichts und es keimte zwangsläufig die Frage nach den Gründen für diese Unterlassung auf. Bevor ich dieser Frage intensiver nachging und sich ab der Suche nach einer Antwort der Weg innerhalb meiner künstlerischen Arbeit weiter verzweigte, gab ich der Frau eine neue Form. Die bisher verwendete Form war nicht vollplastisch, sondern auf einer Seite flach. Sie war einseitig im wahrsten Sinne des Wortes, und auch das war ein weiterführender Aspekt.

Zunächst jedoch verkleinerte ich die Figur wieder. Ich hatte den Wunsch, sie zurückzuholen aus der Fülle der Möglichkeiten, in die ich sie geschickt hatte und in denen ich mich zusehends verlor und müde wurde. In der Folge meiner Auseinandersetzung mit der entstandenen Situation gab die Pflanzende (die nichts pflanzt) ihre Einseitigkeit auf, wurde dreidimensional und verwandelte sich in eine in sich selbst Eintauchende, die in Embryonalhaltung verharrte und so, als reines Potential, zum Sinnbild der Möglichkeiten mutierte. Rundlich wie eine Handschmeichlerin, ihr Gesicht verbergend, immer noch reproduzierbar, blieb sie weiterhin anonym. Ich vervielfältigte sie nur in geringer Auflage und schuf Formen, in die ich sie hineinlegte. Dabei begann ich Eichenholz zu verwenden. Die Eiche taucht innerhalb der "Pflanzstätte" hin und wieder als einrahmendes, bergendes Material auf. Der längst gepflanzte und schon wieder in Kulturgut verwandelte Baum kommt hier ins Spiel.

Danach stagnierten meine Bemühungen um diese turbulente Frau, der ich den Baum aus den Händen genommen, die ich in eine haltlose Situation und dann in die Selbstversenkung getrieben hatte. Ich wandte mich anderen Dingen zu. In dieser Pause entstand z.B. die "Brotzeit", eine weitere wichtige Werkgruppe.

Die Frage nach den Gründen der nicht vollzogenen Pflanzung erwuchs aufs neue. Für Außenstehende mag das rätselhaft klingen. Und spätestens mit dieser ernsthaften Frage nach der Unterlassung einer beabsichtigten Handlung löste ich mich aus der direkten Bezugnahme zum Münzbild und näherte mich einer weiterführenden Arbeit, die schließlich unter der Überschrift "Die Untersuchung der Gründe" eine andere Richtung nahm. Meine Frage danach, wie ich diese begonnene Arbeit weiterentwickeln und die zusammengerollte, kleine Frau wieder zur Entfaltung bringen konnte, wurde durch eine Vision im Dezember 1995 beantwortet. Das folgende Bild stand damals plötzlich klar umrissen vor meinem inneren Auge:

"Ich sah meinen eigenen Körper vervielfacht in einem klaren, hellen Raum. Gebückt, wie in einer Gebetshaltung, kniete ich auf dem Boden. Ganz langsam schob sich mein Oberkörper nach vorne, bis er flach am Boden lag. Mein Körper war in der Hüfte gewunden. Meine Arme lagen angewinkelt neben dem Kopf. Mein Gesicht war versunken, abgetaucht unter den Grund. Ich sah mich als Ergründende, die in schweigender Anonymität, ihrem Gesicht, dem Sammelorgan aller Sinne folgend eindrang." 1996

Mit der Größe und Kraft meines eigenen, realen Körpers hatte ich in dieser Vision die kleine Frauenfigur abgelöst, war in sie eingetaucht und hatte sie der Sinnbildhaftigkeit und ihrer kunsthandwerklich geprägten Ästhetik enthoben. Als Ergründende und nicht als Pflanzende führte ich selber die Arbeit dieser Kulturfrau auf einem anderen Terrain und unter anderen Bedingungen fort.

In der mehrteiligen Arbeit "Die Untersuchung der Gründe" wurde diese Vision manifest. Die Untersuchung der Gründe ist, wie ich rückblickend erkenne, die konsequente Fortsetzung einer in Wahrheit nie ausgeführten Pflanzung. Sie legt nicht zuletzt eine (deutsche?) Gründlichkeit an den Tag, wenn man sich vorstellt, dass hier der Nährstoffgehalt, die Dichte und womöglich die Belastbarkeit des Bodens mit allen Sinnen erkundet wird, bevor das Pflanzen beginnt oder unterlassen wird.Hier endete gewissermaßen ein Pfad auf dem Weg mit der pflanzenden Frau. Die unmittelbare und sichtbare Verbindung zum Ursprung begann sich aufzulösen. Es entstand eine selbständige neue Gruppe von Arbeiten, in denen Abgüsse meines eigenen Körpers und verkleinerte Reproduktionen desselben in Gips und Wachs auftauchten und agierten. Die Fortsetzung dieser Arbeiten mündete schließlich sogar in eine fantastische Kurzgeschichte. Das heißt ich habe auf diesem Weg sogar den Bereich der Bildenden Kunst verlassen und inszenierte den entstandenen Text via Performance und einer die Leichtigkeit und Flugbereitschaft betonenden Ausstellung unter dem Titel "Flyers & Folders". Mir selber ist die Verbindung zur Pflanzenden auf der Münze zwar immer noch klar. Ich kenne den Weg, der dahin führte und benutzte immer noch Motive, die eine Verbindung zum Ursprung aufrecht erhielten, doch den uneingeweihten Betrachtern entgingen diese mit Sicherheit. Ihnen stellten sich diese Arbeiten selbstredend und unabhängig dar.

Doch zurück zum Ursprung. Ich hatte angedeutet, dass mir die Einseitigkeit der Frau noch am Herzen lag. Ich ging der Frage nach, wie wohl die Kehrseite einer Frau aussehen würde, die 52 Jahre lang mit Kopftuch, barfüßig und mit langem Kleid, kniend, einen Baum über der Erde hält. Abgesehen von vermutlich ausgeprägten Armmuskeln und Rückenschmerzen hatte sie Zeit, Zeit zum Nachdenken, Zeit zum Träumen, Zeit, sich in ihrer Vorstellung neu zu erfinden. Meine Fantasie pochte an diese Kehrseite, die bisher nicht betrachtet wurde. Erstarrt in der Kupfer-Nickel-Legierung liegen die unbekannten Gesichter dieser demütig anmutenden Frau, die sich bescheiden zeigt und nicht zuletzt deshalb sympathisch wirkt.

Als Pendant zum Relief "Ritus", das am Beginn der "Pflanzstätte" steht, zeigt das etwas größere, ungerahmte Relief "Zu neuen Ufern" eine Frau, die ihr entschlossenes Gesicht ein Stück weit mehr aus dem Bildgrund löst, es dem Betrachter zuwendet und, auf einem Einbaum kniend, über bewegte Gewässer rudert. Mit kräftigen, großen Händen hält sie als Paddel ein langstieliges Eichenblatt, das sie in die Wellen treibt. Dieses Relief steht immer noch in der Reihe der reproduzierbaren Arbeiten. Es ist hier ein fast ausschließlich herstellungstechnisches Moment, das die Verbindung zur Münze, aufrecht erhält.

In der Arbeit "Die Künstlerin", für die es keine Gussform mehr gibt und die deshalb nur als Unikat existiert, zeigt sich die Frau von allen Seiten. Sie kniet hier auf einem Eichenblatt, das viel größer ist als sie selber. Dieses Blatt dreht sich langsam auf einer rotierenden Achse. Dabei beschreibt der unverhältnismäßig lange Stab, den sie in den Händen hält, einen Kreis. Sie zeichnet eine unsichtbare Kreislinie über dem Grund und markiert von hier aus, auf einem Podest kniend, ihren Ort über den Böden der Kunst.

Die in diesen beiden Arbeiten verwendeten Attribute und die bewusst verzerrten Größenverhältnisse betonen das fantastische und märchenhafte Moment, das Verwandlungen aller Art in der Fiktion wie auch in der Wirklichkeit in sich tragen.

Die Konzentration auf das winzige, im Kreis liegende Motiv führte, wie ich hier in Worten zu schildern versuchte, zu einer unvorhersehbaren Ausdehnung meiner eigenen Arbeit auf den Böden der Kultur. Es ist keine Sprengkraft, die schlagartig von dieser Fokussierung ausging, sondern eine andauernde, kraftvolle, sich immer weiter verzweigende Bewegung auf weiter Flur.

© Sibylle Ritter 2001



Ausstellungen zu dieser Werkgruppe:

1994 Berlin, Galerie am Scheunenviertel, GESCHICHTEN UM EINE FRAU UND EINEN BAUM
1999 Stuttgart Rathaus TAUSENDMAL BERÜHRT
2001 Stuttgart, Galerie Naumann, PFLANZSTÄTTE