Pflanzstätte
2001, Stuttgart, Galerie Naumann



Zeit für Anbetung

Sibylle Ritter in der Galerie Naumann

Aus: Stuttgarter Zeitung Nr. 128, KULTUR PODIUM, Mittwoch, 6. Juni 2001

"Pflanzstätte" - dieser Titel klingt nach sakralem Kult, nach heiligem Hain und nach archaischem Opfer. Ganz abwegig ist diese Vorstellung sicher nicht, denn Sibylle Ritter stellt in der Galerie Naumann ein altvertrautes, wenn auch vielleicht häufig nicht mehr bewusst wahrgenommenes Motiv dar. Die einen Eichenschössling pflanzende Frau auf dem Revers des 50-Pfennig-Stücks.
Dieses deutsche Symbol des Aufbaus und des neuen Wachstums nach dem zweiten Weltkrieg wird bei der Künstlerin zu verschiedenen Variationen umgeformt - als Relief im klassischem Weiß, mit geöffneten Händen, betend oder vor einem goldenen Hintergrund, wodurch es wie ein mittelalterliches Altarbild anmutet. Dann wird es als Serie verschwindender Reliefs durchgespielt, womit die Vergänglichkeit der Pflanze und des Lebens allgemein angedeutet sein könnte. Schließlich wird die pflanzende Frauenfigur plastisch und aufgereckt und wie ein Baum dargestellt, dann wieder zusammengekauert wie ein Embryo in einem großen aufgebrochenen Weltenei, das an Hermann Hesses Vogel Abraxas aus dem Roman "Demian" denken lässt.
In einer Videoarbeit, ein Medium, in dem Ritter eher selten arbeitet, verwandelt sich die Frau schließlich tatsächlich in einen Baum - Daphne und Ovids "Metamorphosen" fallen den Betrachter ein. Mit diesen leichten, fast märchenhaften und doch zugleich bodenständigen und tief wurzelnden, weitreichenden Bildern ergeben sich Verbindungen zu einer von Sibylle Ritters früheren Arbeiten, den Untersuchungen des Grundes, mit denen sowohl der Erdboden als auch die rationale Causa gemeint sind. Wie in diesen Untersuchungen ist auch die Ausstellung in der Galerie Naumann mit der Darstellung der Pflanze und des pflegenden Menschen ein Aufruf zur Wahrnehmung und Untersuchung der Hintergründe des Lebens und des Verhaltens der Menschen in der Welt - und letztlich eine zart fühlende spirituelle Hommage an die Natur.

soz



Sibylle Ritter in der Galerie Naumann

aus: Kunst-Bulletin, Juni 2001

Seit fast einem Jahrzehnt setzt sich Sibylle Ritter mit einem Motiv auseinander, dem jeder Deutsche täglich begegnet. Die knieende Frau, die auf der 50.Pfennig-Münze unermüdlich ihre Eiche pflanzt, enthebt die in Stuttgart lebende Künstlerin immer wieder ihrem ursprünglichen Kontext.
Den Wald hat Sibylle Ritter quasi auf der Flucht entdeckt. Ein Trommelworkshop, der im Raum unter ihrem Atelier stattfand, trieb sie hinaus. In der Folge lässt sich ein Bruch im Werk der Spagnulo -Schülerin ausmachen: Bis dahin hatten es streng architektonisch konstruierte Arbeiten bestimmt, nun trat die Beschäftigung mit Bäumen in den Vordergrund, die Künstlerin nähte Kleider für tote Zweige und für ganze Stämme. Der Wald als Zufluchtsort: Das könnte ein Sehnsuchtsmotiv nach deutschem Geschmack sein. Doch wer Sibylle Ritter vielteiliges , wandfüllendes Gipsrelief "Growing Silence/Anbau von Stille" in der Galerie Naumann sieht, ahnt, dass sie anderes im Sinn hat. Gipswellen attackieren von einer Seite der Tafel aus das Motiv, bis nichts mehr zu erkennen ist. Auf der letzten Platte ist die Knieende mit dem Eichbaum in der Hand, die sonst die 50-Pfennig-Münze ziert, ganz in der Bildfläche verschwunden.
Die Beschäftigung mit dem Wald hatte Sibylle Ritters Blick Anfang der neunziger Jahre auf die "Kulturfrauen" gelenkt; das Pendant zu den Trümmerfrauen forstete die Wälder auf. Eine solche Frau zeigt das Geldstück, dessen Motiv zum zentralen Aspekt in der sehr konzeptuell ausgelegten Arbeit der heute 38-Jährigen wurde. Die Frau avancierte, von Pflanze und monetärem Hintergrund befreit, zum vollplastischen Objekt. So kann die in Gips Vervielfältigte Purzelbäume schlagen, in Melancholie versinken, zum Schlag ausholen.
Die formale und materielle Transformation erfolgt in erster Linie nach ästhetischen Kriterien. Besonders in der Reihung entwickeln Ritters Kunstfiguren eine eigene Poesie. Die grafischen Arbeiten, die das abfotografierte Motiv durch Schnitte manipulieren, unterstreichen die subversive Haltung der Künstlerin. Denn die Pflanzende entpuppte sich für Sibylle Ritter "als Frau, die anderes im Sinn hat, als sich in die Folgen männlicher Kriegsspiel zu knien". Nach der Katastrophe des zweiten Weltkriegs sollte sie die Hoffnung auf erneuernde Kräfte symbolisieren. Doch Sibylle Ritter entdeckte schon bei ihrer ersten künstlerischen Annäherung, als sie das Relief vergrößert nachmodellierte, eine Demutshaltung und ein unzeitgemäßes Frauenbild, das sie bis heute demontiert. Das der Anmarsch des Euro ihrer Arbeit zusätzlich Aktualität verleiht, stört dabei kaum.

von Andrea Kachelries