Untersuchung der Gründe


Auftakt zur Untersuchung der Gründe

Während uns der Verlust von Tiefe kaum noch schmerzt, weil wir stattdessen in gelobten Abgründen irren, gehen unsere Gründe unter unseren Augen ohne Aufsehen verloren.
Dieser Vorgang ist unheilvoll und kompliziert.
Die Natur, dieser heilige Rest, leidet fast schweigend an diesem Vorgang und hält sich an ihre geheimen, vielleicht heilsamen Regeln.
Für mich aber gilt hier, die Tiefe vom Abgrund zu unterscheiden und anstatt zu leiden zu forschen:
Abgründe markieren, die Tiefe zeichnen, doppelte Böden aufbrechen, auf Grund stoßen, ohne mich täuschen zu lassen von Untiefen.
Die Sinne müssen freibleiben. Sie sollen mich führen.
Die Gründe haben ihren eigenen Sinn. Sie fühlen uns.
Sie erfühlen sich in uns in stiller Hysterie und unter hohem Druck.
Ihnen fehlt ein befreiender Vulkan - stattdessen nur unsere kalten Kanäle.
Wir füllen die Gründe mit immer unverdaulicheren Resten und sie bleiben still.
Sie müssen schlucken und können nicht speien. Sie tun es jedenfalls selten.
Das ist das Wunder.
Denn mit ihrem Ausbruch hätten sie uns schon längst in den Himmel gehoben, wo wir, weil wir es irgendwie immer noch glauben, leichter leben können.
Dieser Himmel ist unsere unheimliche Kultur, ein rettender Grund.
Unter hohem Druck gerinnen die Reste von Natur, die in schweigenden Kreisläufen verweilen, zu erdarmen Gerinseln.
Die dünne Erde atmet schwer.
Dort, wo wir auf ihr sind, ist sie verseucht, verdichtet, betreten und gestaucht.
An unserer Wichtigkeit geht sie aus gutem Grund verloren.
Sie hüllt sich in grauschwarze Schleier. Doch unsere Augen sind erprobte Filter.
Tiefe aber kann nur dort sein, wo der Himmel sichtbar bleibt und wo sich der Grund, ohne unter Druck zu stehen, aufgelockert vermehren und verwandeln kann. Daß er sich vermehren will - auch in uns -, daran denkt keiner.
Während sich unser Denken grundlos vermehrt, verlieren wir den Sinn für das Fruchtbare, vor dem wir uns aus einer unerkannten Angst heraus zunehmend verschonen.
Statt für das Fruchtbare haben wir uns für das Furchtbare entschieden.
Unsere Vermehrung wird zum Kunstgriff. Wir lösen uns von fehlbaren Gründen und halten fest am gründlichen Glauben an ein Leben ohne Defekte.
Doch unser gezielter Blick auf den Defekt erzeugt sein Bild im blinden Fleck. Dieser blinde Fleck ist der beste Grund für unser Tun. Unsere Gründe sind mit Ungeduld bestellt und mit der Angst vor denen, die auf anderen Gründen Angst und Eile haben und auch keine Macht.
Mit ungerührten Mienen graben sie sich Waffen in die Böden und hetzen die Saat im Feld mit Chemie in die Frühreife.
Was aus diesem Grund kommt, rächt sich mit trefflicher Genauigkeit und verkürzt unser Leben, das wir wiederum gerne kunstvoll und grundlos verlängern.

Sibylle Ritter 1998


Ausstellungen mit dieser Werkgruppe:

1996 Stuttgart, GEDOK - Galerie KULTUS - DIE UNTERSUCHUNG DER GRÜNDE
1998 Stuttgart, Galerie Insel UNTERSUCHUNG DER GRÜNDE